Joachim war kaum zu Hause, als es an seiner Wohnungstür klingelte. Draußen stand Sven. Seine Stirn hatte er in Falten gelegt, als er sagte: "Ich mache mir Sorgen um dich, Jo. Du läßt dich wieder treiben. Es ist genau wie damals, als du dir das Leben nehmen wolltest. Deine Vergangenheit hat dich wieder eingeholt. Du solltest deinen Geburtstag feiern."
Joachim sah ihn an und schwieg lange Zeit, bevor er entgegnete: "Komm rein, Sven. Ich wollte meinen Geburtstag zwar allein feiern, aber du bist immer willkommen."
Sven betrat die Wohnung. Innen war alles aufgeräumt und sauber, beinahe steril. Das war nicht immer so gewesen. Die vielen Todesfälle in seiner Familie hatten Joachim aus der Bahn geworfen. Oft war seine Wohnung ein einziges Schlachtfeld gewesen. Schmutziges Geschirr, schmutzige Wäsche, leere Schnapsflaschen, Essensreste, Bücher, Videokassetten: Die Wohnung war voll von diesen Dingen gewesen, und immer hatte man aufpassen müssen, daß man nicht gerade auf einen Gegenstand trat oder sich darauf setzte. Aber diese Zeiten waren zum Glück vorbei, und nun sollten sie wieder beginnen.
"Wenn ich dich vorhin richtig verstanden habe, hast du Bilanz über deine ersten dreißig Lebensjahre gezogen und dir über den Sinn des Lebens Gedanken gemacht", begann Sven.
Joachim nickte. "Das stimmt. Wenn das Leben überhaupt irgendeinen Sinn hat, dann habe ich ihn bisher verfehlt."
Sven setzte sich auf die Wohnzimmercouch, und Joachim nahm seinem Freund gegenüber in seinem Lieblingssessel Platz.
"Wie ich dich kenne, willst du bestimmt wissen, was meiner Meinung nach der Sinn des Lebens ist."
"Ich habe dir diese Frage schon tausendmal gestellt, aber du hattest mir bisher noch nie antworten können", sagte Joachim.
"Ich habe lange und gründlich darüber nachgedacht, und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß es einen Sinn des Lebens gar nicht gibt."
"Du willst doch nicht etwa sagen, daß das Leben sinnlos ist."
"Nein, sinnlos ist das Leben nicht. Aber es hat keinen Sinn, der für alle gilt, oder jedenfalls kennen wir diesen Sinn nicht. Jeder Mensch muß sich den Sinn seines Lebens selbst geben. Er muß den Sinn seines Lebens für sich selbst definieren. Hast du bisher den Sinn deines Lebens definiert?"
"Nein", antwortete Joachim.
Sven nickte. "Das dachte ich mir. Wer sich selbst kein Lebensziel gibt, der bleibt in der Orientierungslosigkeit stecken. Du bist orientierungslos, weil du nicht weißt, was du erreichen willst. Und so lange du das nicht weißt, kannst du auch nichts erreichen. Du solltest den Sinn deines Lebens möglichst bald finden, denn es könnte bald zu spät dafür sein. Vielleicht hast du Angst davor. Vielleicht hast du Angst, dein Ziel nicht zu erreichen. Du mußt erforschen, was du selber willst. Nur so kannst du deinem Leben einen Sinn geben."
"Das hört sich alles schön und gut an, aber hat Nadine jemals daran denken können, ihrem Leben einen Sinn zu geben? Nein, sie ist viel zu früh gestorben."
"So darfst du nicht denken, Jo. Das Leben ist oft ungerecht. Aber du darfst daran nicht verzweifeln. Du wolltest dich selbst töten. Weißt du auch warum? Es gibt nur einen Grund, warum sich Menschen selbst töten: Weil sie keinen Sinn mehr in ihrem Leben sehen. Ein Selbstmörder ist entweder am Ziel, das er sich gesteckt hat, gescheitert, oder er hat sich kein Ziel gesteckt - so wie du. Er sieht sein Leben als sinnlos an, und gerade daran verzweifelt er. Nur weil er kein Ziel finden kann, denkt er, daß er versagt hat. Ich weiß wovon ich spreche, denn auch ich habe schon mal mit dem Gedanken gespielt, mir das Leben zu nehmen."
"Wirklich?" Joachim war überrascht. "Hast du das?"
"Ja .Ich glaube, jeder hat schon mal Selbstmordgedanken mit sich herumgetragen, aber nur wenige geben es zu. Die meisten aber überlegen es sich gründlich, und das ist ihr Glück. Bisher gab es immer noch irgendetwas, das mich am Leben gehalten hat. Irgendeinen Grund weiterzuleben hat es für mich immer gegeben, und wenn es nur die nächste Folge von Raumschiff Enterprise war, und ich habe mir gedacht: Wenn ich mir jetzt das Leben nehme, verpasse ich etwas. Und, Jo: Es ist eine große Entscheidung, vielleicht die einzige im Leben, die unumkehrbar ist. Ich habe es bisher noch nicht geschafft, mich endgültig vom Leben loszusagen, und das ist auch gut so."
"Was ist für dich der Sinn des Lebens?" fragte Joachim. "Was ist dein Ziel?"
"Sag mir, was du glaubst, und ich sage dir was dein Lebensziel ist", antwortete Sven. "Gute Christen, die fest an das Paradies glauben, wollen natürlich ins Paradies, und deshalb wollen sie gute Christen sein: Beten, Gutes tun, fair, nett und artig sein. Das ist für einen Christen der Sinn des Lebens. Denn was nützt ein schönes Leben mit viel Reichtum, Ruhm und Wohlstand, wenn man hinterher in der Hölle landet, weil man nicht an die Armen gedacht hat? Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß ein Reicher in den Himmel kommt. Bei den Atheisten sieht es etwas anderes aus: Wer gar nicht an ein Leben nach dem Tod glaubt, der wird sich bemühen, sein Leben zu genießen, so gut es geht. Er wird jeden Tag feiern und auf Partys gehen und doch dafür sorgen, daß er möglichst lange lebt. Deshalb wird er gesund leben, viel Sport treiben, regelmäßig zum Arzt und zur Krebsvorsorge gehen undsoweiter. Denn wenn mit dem Tod alles vorbei ist, wird er ihn möglichst weit von sich schieben. Oder er wird versuchen, auf andere Weise unsterblich zu werden. Als Maler, Bildhauer, Komponist, Schriftsteller, Schauspieler, Wissenschaftler oder Politiker. Er wird vielleicht wollen, daß sein Werk seinen Tod überdauert. Daß er nicht umsonst gelebt hat. Das allein ist das Streben eines jeden Künstlers. Doch die meisten Menschen sind weder gläubige Christen, noch überzeugte Atheisten. Sie bewegen sich irgendwo dazwischen, mal an Gott und an ein Leben nach dem Tod glaubend, mal zweifelnd. Für sie ist es sehr schwer, den Sinn des Lebens zu finden. Auch ich gehöre zu ihnen. Was nützt Selbstlosigkeit und Güte, wenn man in diesem Leben darunter leiden muß und kein Leben nach dem Tod vorfindet? Und was nützt einem Reichtum, Ruhm, Geiz und Hedonismus, wenn man dafür in einem Leben nach dem Tod in der Hölle landet? Die meisten Menschen verdrängen deswegen den Tod, aber die Realität holt uns immer wieder ein. Bei der nächsten Beerdigung, am nächsten Geburtstag, am nächsten Klassentreffen. Niemand lebt ewig, außer vielleicht der Graf von Saint Germain. Denk nach, woran du glaubst und wie du dein Leben gerne gestalten möchtest. Und weiche dann von deiner Linie nie mehr ab - ganz gleich, ob du den Weg des Christen oder den des Atheisten gehen möchtest."
"Vor allem möchte ich eine Frau", sagte Joachim nach längerem Schweigen. "Eine, mit der ich alle Entscheidungen des Lebens teilen kann. Ich möchte eine Tochter oder einen Sohn - so wie andere Menschen auch. Und ich will mein Leben genießen - das diesseitige wie das jenseitige."
"Mit dem Genießen können wir gleich anfangen, Jo. Ich schlage vor, wir machen einen kleinen Angelausflug nach Heppenheim zum Bruchsee. Das wird dich auf andere Gedanken bringen - und wenn nicht, kannst du deine Gedanken immer noch zu Ende denken, ohne daß du dabei das vernachlässigst, was du eigentlich gerade tun willst."
"Gerne." Joachim stand auf. "Ich hol' jetzt nur mal meine Angelausrüstung. Warte so lange auf mich."