Sie hielten in Heppenheim vor einem kleinen Anglerlädchen. Sven stieg aus, um Würmer zu kaufen. Joachim blieb im Auto und hörte eine Kassette. Tränen traten ihm in die Augen, als ihn die Musik an Trina erinnerte. Er spulte die Kassette etwas vor und hörte dann weiter.

Sven kam aus dem Angelladen, in der Hand eine Schachtel voll lebender Würmer. Gut gelaunt stieg er in den Wagen und sagte: "Jetzt kann 's losgehen."

Bis zum Bruchsee war es nicht mehr weit.

"Aber was ist denn der wahre, metaphysische Sinn des Lebens?" fragte Joachim. "Der für alle gültige Sinn? Warum existieren wir? Warum sterben wir? Und was geschieht nach dem Tod mit uns?"

Sven zuckte die Achseln. "Ich weiß es nicht. Keiner weiß es. Aber es gab schon Menschen, die klinisch tot waren, und sie sahen sich selbst am Unfallort oder auf Operationstisch oder im Krankenbett liegen, und..."

"Ich kenne die Geschichte von Menschen, die zurückgekommen sind", unterbrach Joachim. "Und ich kenne auch eine These der Wissenschaft: Wissenschaftler behaupten nämlich, daß das noch lange kein Beweis für ein Leben nach dem Tod ist. Keiner dieser Menschen war jemals hirntot. Das Gehirn lebte noch und suggerierte den Menschen etwas. Es gaukelte ihnen Dinge vor, die ganz ihren Jenseitsvorstellungen entsprachen. Der Himmel, Gott als Licht voller Liebe, die verstorbenen Verwandten kommen dem Toten entgegen, um ihn zu begrüßen. Auf der anderen Seite die Hölle. Finsternis, Dämonen, unfreundliche Gesellen. All das ist doch durch unsere Kultur beeinflußt. Was wir glauben, sehen wir auch, wenn unser Gehirn noch arbeitet. Es ist wie ein Traum."

"Vielleicht wurde aber unsere Kultur durch die Erlebnisse klinisch Toter geprägt", entgegnete Sven. "Nicht umgekehrt. Klinisch Tote gab es schon vor den Zeiten der modernen Medizin. Das ist nichts neues."

"Vielleicht sind Trina und Nadine irgendwo im Himmel und warten auf mich. Ich hoffe es. Es" ich, wenn ich daran zurückdenke, wie Nadine gestorben ist" Und alles meine Schuld."

"Es war doch nicht deine Schuld!"

"Doch, ich hätte sie nicht unbeaufsichtigt lassen sollen. Mein, Gott, es war schrecklich!" Seine Augen füllten sich mit Tränen. "Ich kam nach Hause, und meine Tochter war tot. Ich habe schnell den Arzt gerufen, aber meine Tochter blieb tot. Ich konnte nichts mehr für sie tun. Ich habe noch nicht einmal gewußt, woran sie gestorben ist. Sie war einfach - einfach tot."

"Du hättest ihr auch nicht mehr helfen können, wenn du dabei gewesen wärest", beruhigte ihn Sven. "Es war ein plötzlicher Kindtod, eine seltene Krankheit. Du konntest nichts dafür."

"War es wirklich eine Krankheit, oder war es Vorsehung? War ich dazu bestimmt zu leiden?"

Sven dachte angestrengt nach, um tröstende Worte für seinen Freund zu finden, aber es wollten ihm keine einfallen. Dafür hatten sie jetzt aber den See erreicht, und wenigstens für die nächsten Minuten - bis die Klappstühle aufgestellt und die Angeln ausgeworfen waren - würde Joachim von seinen Nöten und Ängsten, von seinen schlechten Gedanken befreit sein. Aber dann würden sie wieder reden müssen - Reden, um sich die Zeit zu vertreiben, bis der erste Fisch anbeißen würde. Früher, bevor Joachim Trina kennengelernt hatte, waren sie schon sehr gerne angeln gewesen, und dann hatten sie Männergespräche geführt: Über Fußball und Sex und über all die anderen Dinge, die Männer Freude machten, und manchmal hatten sie auch philosophische Gespräche geführt. Ja, diese Gespräche waren für die beiden der eigentliche Grund gewesen, warum sie stets so gerne zum Angeln gefahren waren, weniger die Fische. Es hatte sogar Tage gegeben, an denen sie nichts gefangen hatten.

Sven parkte den Wagen in der Nähe des Vogelparks, und zusammen gingen sie an den See. Kinder tollten am Wasser herum und fütterten die Enten, die laut quakend umherschwammen und nach den Brotkrumen schnappten. Die Mütter der Kinder saßen abseits auf einer Bank und führten lautstark Gespräche über ihre Ehen, ihre Sprößlinge und über den neuesten Klatsch und Tratsch. Ein alter Mann schlurfte am Ufer des Sees entlang, gestützt von einem Zivildienstleistenden. Eine Frau mit einem kleinen, laut bellenden Hund kam des Weges und verschwand wieder aus der Sichtweite der beiden Angler, die am Ufer ihre Klappstühle aufstellten. Es war ein schöner Tag, ein herrlicher Tag für Leute, die an diesem Tag das Glück hatten, nicht arbeiten zu müssen. Die Sonne erstrahlte an einem blauen Himmel, ein sanfter Wind kräuselte das Wasser. Joachim befestigte einen Köder an seiner Angel und warf sie aus. Dann setzte er sich, die Angel in der Hand. Sven machte es ihm nach, und als sie saßen, sagte er: "Du brauchst dich nur umzusehen. Das Leben ist schön. Hier ist alles schön. Das solltest du genießen. Wer sich nur Sorgen macht, der ist oft blind für die Schönheit der Natur."

"Die Natur ist schön, aber grausam", warf Joachim ein. "Die Natur hat meine Tochter getötet."