An seinem dreißigsten Geburtstag fing Joachim überhaupt keinen Fisch. Sven fing zwei kleinere Fische - nichts besonderes, aber es reichte für eine warme Mahlzeit. Er nahm sie noch vor Ort aus und gab sie dann in Joachims Eimer.
"Für dich", sagte er. "Ich weiß, wie gern du Fisch ißt."
"Danke", sagte Joachim. "Aber ich schätze, ich bin heute nicht hungrig, und so 'n Fisch hält sich nicht lang."
Sie setzten sich ins Auto, Sven fuhr los. Schweigend saßen sie im Auto und lauschten den Klängen des Autoradios. Am Krankenhaus vorbei und am Stadtrand entlang ging es durch das Gewerbegebiet, bis die Straße zu Ende war und Sven in Richtung Autobahn abbog.
"Schmeiß mal lieber 'ne Kassette rein", sagte Joachim, als Sven das Auto in den Verkehr einreihte.
"Nein", entgegnete Sven. "Wir sollten den Verkehrsfunk hören."
"Das kurze Stück? Wenn es hier einen Stau gibt, nützt es uns sowieso nichts. Die nächste Ausfahrt fahren wir eh' runter."
"Wie du willst", sagte Sven und schob eine Kassette in den Kassettenrecorder. So verpaßten sie die Falschfahrermeldung.
Es wunderte Sven in keinster Weise, daß plötzlich alle Fahrzeuge rechts fuhren, und da sich vor ihm gerade ein langsamer Lastzug dahinschleppte, scherte er aus und fuhr auf die Überholspur. Damit nahm das Unheil seinen Lauf.
"Wunderbar", bemerkte Sven. "Die Straße vor uns ist frei." Er trat auf das Gaspedal, und der Wagen wurde schneller. Die Nadel des Tachometers übersprang gerade die 150-Stundenkilometer-Marke. Tendenz steigend.
"Bist du verrückt?" schrie Joachim plötzlich.
"Was ist denn?"
"Ich habe meine Eltern bei einem Autounfall verloren und bin selber daraufhin mit schweren Verletzungen im Krankenhaus gelandet. Schon vergessen? Meine Schwiegermutter mußte sich damals um Nadine kümmern."
"Komm schon, die Spur ist frei. Was kann da groß passieren?"
"Fahr langsamer. O.K.?"
Joachim hatte dies kaum ausgesprochen, als plötzlich vor ihnen ein BMW auftauchte, der auf sie zuzukommen schien. Rechts von ihnen befand sich gerade ein Lastzug mit der Aufschrift Edeka. Links war die Leitplanke, dahinter die Gegenfahrbahn.
"Scheiße!" schrie Sven. "Was will denn der hier? Der fährt in die falsche Richtung."
"Versuch, nach rechts auszuweichen!" schrie Joachim.
Der Edeka-Lastzug war lang. Er bestand aus einem großen Lastwagen und einem Anhänger. Es war nicht leicht, sofort wieder in die rechte Spur einzuscheren. Sven mußte entweder beschleunigen und den Lastzug überholen, oder er mußte abbremsen und sich hinter dem Lastzug einordnen. Beides würde Zeit kosten - wertvolle Zeit, denn der BMW raste weiterhin mit unverminderter Geschwindigkeit auf sie zu.
"Verdammt, ich habe es gewußt!" schrie Joachim. "Ich habe es gewußt! Meine Ehefrau, meine Tochter, meine Eltern, meine Schwiegermutter" Es bleiben nur du und ich, dann ist die Geschichte beendet. Nur du und ich."
Sven entschied sich, den Lastzug noch zu überholen. Das war ein Fehler. Inzwischen mußte wohl der BMW-Fahrer die Gefahr erkannt haben, denn er bremste ab. Die Reifen des Fahrzeugs quietschten, während Sven weiterhin beschleunigte und dem Fahrer des Lastzuges durch Hupen ein Zeichen gab, er sollte langsamer fahren. Der Fahrer des Lastzuges verstand die brenzlige Situation und reduzierte die Geschwindigkeit ein wenig. Auch der BMW drosselte die Geschwindigkeit, während Sven immer noch beschleunigte. Schon befanden sie sich auf der Höhe des Führerhäuschens, und Joachim winkte dem Lastzugführer zu. Sven setzte den Blinker und wollte gerade in die rechte Fahrbahnspur einscheren, doch es war zu spät. Trotz eines Ausweichmanövers des BMW-Fahrers kam es zum Aufprall. Dann ging alles ganz schnell. Glas zersplitterte, Metallteilchen flogen durch die Luft, und Joachims Kopf wurde gegen die Scheibe gedonnert. Sven war auf der Stelle tot. Daran gab es keinen Zweifel. Sein Körper war zerquetscht, aus seinem Mund floß Blut. Er atmete nicht mehr. Die Augen blickten starr geradeaus.
Sven war tot, aber Joachim konnte sich noch retten. Er lebte noch. Zwar spürte er einen stechenden Schmerz an seinem Kopf, wo er offensichtlich eine Wunde hatte, aber lebte noch, und das war vorerst das wichtigste. Aber er würde nicht mehr lange leben. Der Lastzug hinter ihm hatte zwar gebremst, aber er dennoch würde er weder vor der Unfallstelle zum Stillstand kommen, noch würde er rechtzeitig ausweichen können. Er mußte unweigerlich in das Auto krachen, und das würde unweigerlich sein Ende bedeuten. Joachim wußte das, und er wußte auch, daß er keine Zeit mehr hatte. Er mußte blitzschnell handeln. Ohne zu überlegen schnallte er sich ab, öffnete die Beifahrertür, stieg aus und sprang zur Seite. Keine Sekunde später prallte der Lastzug auf Svens Auto und quetschte es zusammen wie eine Ziehharmonika. Metall quietschte, Glas splitterte, und Joachim rannte davon. Er rannte und rannte und hörte nicht auf zu rennen. Die Gewißheit, daß sein bester Freund gerade gestorben war, die einzige Person, die in diesem Leben noch zu ihm gehalten hatte, kam ihm erst später, als er den Schock überwunden hatte.