Es war stockfinster, als Joachim das Bahnhofsgebäude erreichte. Mitternacht war schon vorbei. Um diese Zeit würde der Bahnsteig und auch das Bahnhofsgebäude menschenleer sein. Kein Bahnhofsvorsteher würde ihn von seinem Vorhaben abbringen können. Niemand würde ihn daran hindern können, sich in aller Ruhe auf die Gleise zu setzen oder zu legen und auf den Zug zu warten. Um diese Zeit fuhren kaum noch Personenzüge - höchstens InterCitys mit Schlafwagen, außerdem Postzüge und vielleicht - Joachim kannte sich da nicht aus - vereinzelt Güterzüge.

Es war kalt. Joachim fror. Dies war nicht das erste Mal, daß er hier, am nächtlichen Bahnhof, den Tod hatte finden wollen. Beim ersten Mal hatte ihn Sven davon abgehalten. Aber Sven war jetzt tot. Der letzte, der ihm noch etwas bedeutet hatte. Er hatte ihn getötet, und nun war es an der Zeit, die Geschichte zu ihrem Ende zu bringen und sich selbst zu töten.

Er sprang vom Bahnsteig hinab auf die Gleise und setzte sich auf eine Schwelle. Dann wartete er. Nichts geschah. Stille umfing ihn. Auf der Hauptstraße, nicht weit vom Bahnhof entfernt, fuhren ein paar Autos entlang, deren Motoren das einzige war, was er neben seinem Herzklopfen und seinem stockenden Atem hörte. Der Freitod, die einzige unumkehrbare Entscheidung in seinem Leben (und zugleich die letzte) lag kurz vor ihm. Diesmal gab es keinen, der ihn retten, keinen, der das Steuer noch im letzten Moment herumreißen konnte. Er war allein. Vereinsamt. Isoliert. Und bald würde auch er von diesem Planeten verschwinden.

Er stand auf und atmete die Nachtluft ein. Bisher war noch kein Zug gekommen. Manchmal konnte es lange dauern. Aber früher oder später würde einer kommen und über ihn hinwegrollen, und dann würde er dieser schlechten, ungerechten, sorgenvollen Welt Lebewohl sagen. Für immer. Vielleicht würde er in eine bessere Welt gelangen, vielleicht auch nicht. Viel schlimmer als das Diesseits konnte das Jenseits nicht werden.

Da gewahrte er plötzlich eine Gestalt auf dem Bahnsteig, die langsam auf ihn zukam. Er konnte sie zunächst nicht erkennen. Doch schon nach wenigen Augenblicken sah er, daß die Gestalt keinen Kopf hatte, vielmehr: Sie trug den Kopf unter dem Arm. Sein Atem stockte, sein Herz klopfte schneller. Über seinen Rücken zog sich eine Gänsehaut. Da stand er nun auf dem Gleis, erwartete jeden Moment, daß ihn ein Zug überrollte, und hatte Angst vor einem Gespenst. Wie paßte das nur zusammen?

"Tu es nicht!" rief eine